"Murat liebt den Pogo noch immer nicht" |
Musik und Identität - Jugendkulturen zwischen Selbstfindung und Ausgrenzungvon Stefan Habermehl und Jörg Meyer |
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Konflikte rund um Musik und die Rolle von Musik in Jugendkulturen
standen im Zentrum der Diskussion und Analyse auf einem dreitägigen
Seminar, zu dem das Jugendbildungswerk Offenbach und das Haus
der Gewerkschaftsjugend im Mai 1996 interessierte Sozialarbeiter,
Pädagogen und Studenten nach Oberursel einluden. Die Wirkungsweisen
von Musikstilen auf die (politische) Sozialisation von Jugendlichen,
das Verhältnis von Musik und Gewalt in rechtsextremen und/oder
gewaltbereiten Jugendszenen und mögliche Ansätze zur
Mediation/Konfliktbereinigung sollten erforscht werden. Dabei
versuchten wir zunächst, uns dem Thema ausgehend von eigenen
Erfahrungen und Erlebnissen mit Musik in der Adoleszenzphase zu
nähern. Welchen Einfluß hatte Musik auf meine Identitätsfindung?
Welchen Stellenwert hatte Musik für meine Sozialisation?
Ungeachtet individueller Unterschiede kristallisierte sich dabei
heraus, daß die Rockmusik der 60er und 70er Jahre für
viele Teilnehmer ein wesentlicher Ausdruck gemeinsamen Aufbegehrens
war, gleichsam die Begleitmusik politischer Kämpfe und Fokus
eines Lebensgefühls, daß sich von der beklemmenden
Enge der gesellschaftlichen Verhältnisse der Nachkriegszeit
absetzen wollte. Jimi Hendrix, der in Woodstock die Hymne der
in Vietnam einen schmutzigen Krieg führenden Weltmacht USA
mit seiner Gitarre zerfetzte, sei stellvertretend für die
symbolische Kraft und identitätsstiftende Funktion von Musik
genannt. Das Unverständnis und die Ablehnung, die der 68er-Generation
von ihren Eltern entgegengebracht wurde, findet ein verblüffendes
Spiegelbild im Verhältnis eben dieser, mittlerweile etablierten
Generation gegenüber der Techno- und HipHop-Kultur der heutigen
Jugend."Ihr seid nichts als linke Spießer, eigentlich
wart ihr das schon immer. Und werden wir mal aggressiv, dann seid
ihr gleich konservativ". Drückt diese Zeile aus einem
Lied der Autonomen-Band Slime aus den 80er Jahren die unweigerliche
Wiederkehr eines Wahrnehmungs- und Akzeptanzvakuums zwischen den
Generationen aus? "Auf der Seite der Erwachsenenkultur scheint
sich der Normalitätsdruck in eine latente Jugendfeindlichkeit
wandeln zu können. ... Die krisenhafte Entwicklung der Gesellschaften
und die Unfähigkeit der Erwachsenenkultur die Zukunft zu
gestalten führen zu einer trotzigen Projektion der bedrohlichen
Tendenzen in die nachfolgende Generation, ... Jugendliche sollen
Hoffnungsträger sein, aber auch Kontinuität bewahren
und werden angesichts des als unberechenbar oder bedrohlich empfundenen
Wandels jetzt zum Risikofaktor."
[Lohmann, 1996]
Wir versuchten daher, eigene ästhetische Vorlieben und Vor-Urteile aufgrund
des äußeren Erscheinungsbildes und politischer Erwartungen
hinter uns zu lassen, um einen Blick hinter die Kulissen von "Jugendmusikkultur"
zu werfen.In der Pubertät ist das "Ich" das Hauptthema
für Jugendliche. Die Erfahrung der sexuellen Entfaltung des
Körpers geht einher mit geistiger Unruhe und Orientierung.
Musik und Tanz bieten geeignete Ansatzpunkte zur Erfahrung und
Erprobung des eigenen Körpers sowie zum Ausagieren psychischer
Spannungen und Energien. In der Form der Jugendmusikkultur leitet
die Musik zudem die Selbstsuche und Identitätsfindung der
Einzelnen oder des Einzelnen über in die kollektive Form
der Gemeinschaft. Deren zentrales Bindeglied sind Gefühle,
die (verzerrt) wiedergespiegelt, (selektiv) verstärkt, in
vielerlei Symbolen materialisiert, synchronisiert und ggf. bis
zum Mythos dematerialisiert werden. Die Empfänglichkeit vieler
Jugendlicher für weltabgewandte (melancholische, suizide),
jedoch intensiv empfundene Themen/Stoffe ist in der Literatur
beeindruckend nachzuvollziehen in der gierigen Rezeption der Bücher
Hermann Hesses und beispielsweise der sozial- und gesellschaftskritischen
Geschichte "Die neuen Leiden des jungen W." Die Reise
zum "Ich" verstärkt die Empfindung der Entfremdung.
Notwendige Grenzüberschreitungen finden an (allen) von der
Gesellschaft und der "Erwachsenenkultur" vorgegebenen
Normen, Tabus, Vorschriften statt, wie auch am eigenen "Alltagsempfinden".
Die Identifikation über Musik und die Zugehörigkeit
zu einer (Fan)gemeinschaft geht einher mit der Einübung von
spezifischen Verhaltensweisen und der Übernahme eines Kanons
von Symbolen, womit sowohl die Basis für die Binnenkommunikation
der Gemeinschaft als auch für die Abgrenzung gegenüber
der Gesellschaft und anderen Gemeinschaften geschaffen wird. Die
totale Identifikation mit einer Gemeinschaft von z.B. Ravern (Haupttrend
des hier und jetzt) geschieht nicht nur äußerlich,
(Klamotten, Sonnenbrillen, Plateauschuhe, Grasshirts etc.) sondern
auch und hauptsächlich durch die gemeinsame Körpererfahrung
des Rave, eine von vielen Formen des sich Fühlens und Bewegens
im Schall der Musik. Was für die Technofreaks der Rave ist,
ist für Rocker / Hardrocker das Ausflippen und wilde Headbanging,
ist für Skinheads der Pogotanz des Hochspringens und sich
Anrempelns. Die körperlichen Formen der kollektiven Grenzüberschreitung
(Enthemmung, Ausflippen, Trance, Extremsport, Gewalttätigkeit)
erzeugen ein Maximum an Erlebnisdichte und Gefühlsintensität,
was durch den Konsum aufputschender Drogen (Alkohol, Kokain, Amphetamine
und synthetische Halluzinogene) noch zusätzlich verstärkt
wird.
"Wenn im Laufe der Nacht die Party beginnt und die Leute
anfangen zu tanzen, nimmt die Energie unaufhörlich zu. Es
ist keine irdische Situation mehr. Alle sind in sich selbst versunken
und im selben Augenblick mit allen anderen und mit der Natur verbunden.
Die Musik wird zu einem Weg, der es ermöglicht tief in das
Innere zu gehen und gleichzeitig den eigenen Körper zu verlassen."
[Pavan w. Ananta]. Dieses Zitat aus der Technobewegung verdeutlicht
ein zentrales Motiv der gegenwärtigen Musikkultur, dessen
Ursprünge über 20 Jahre zurückreichen. Musik als
Medium der Bewußtseinserweiterung, als Weg zur spirituellen
Trance ist heute zur Massenkultur geworden, nachdem sie lange
Zeit das Metier eher randständiger Szenen war. In der heutigen
Techno- und House-Musik kulminiert eine Entwicklung, die vom "psychedelic
rock" der späten 60er über die Synthesizermusik
von Gruppen wie Tangerine Dream und Kraftwerk in den 70ern, die
"industrial music" und minimalistischen Experimente
in den 80ern bis zur Verschmelzung mit der baß- und beatbetonten
schwarzen Tanzmusik (Soul, Funk) führte. Techno muß
als zeitgemäßer kultureller Ausdruck der gesellschaftlichen
Situation und technologischen Entwicklung unserer Gesellschaften
in den 90ern angesehen werden. Er verfügt wie andere Musikkulturen
zuvor über Symbole und Topoi, die als identitätsstiftende
"Geheimsprache" fungieren - "music for those who
know", wie es einer der Referenten des Seminars in Oberursel
ausdrückte. Selbst die eher den Mainstream verkörpernde
"Loveparade" mit einer Million Technoanhängern,
die durch die Straßen von Berlin tanzten, stößt
bei den heutigen Mittvierzigern auf Unverständnis, obwohl
das Motto "Let the sunshine in your heart" doch als
eindeutige Reprise auf die Zeilen des Songs "Aquarius"
aus dem Musical "Hair" aufzufassen ist. Ist die Ich-
und Gegenwartsbezogenheit der jugendlichen Raver als Ausdruck
einer diffusen Gewißheit gesellschaftlicher Perspektivlosigkeit
anzusehen? "Love, Peace and Unity" mag für viele
nicht als politische "message" durchgehen. Die Techno-Kultur
deswegen als unpolitsch wahrzunehmen, ist jedoch kurzsichtig.
Der politische Charakter der Lust an der kollektiven Ekstase besteht
eher in der Verweigerung gegenüber den verschiedenen Varianten
von "Pseudo-Politik", die auf die eigentlichen Zukunftsfragen
keine Antworten haben und dem Selbstläufer "kapitalistische
Globalökonomie" hinterherlaufen.
Das Ritual kollektiver Enthemmung dient individuell wie auch gesellschaftlich
als Ventil für im Alltag angestaute Aggressionen und Sehnsüchte.
Der sich darin ausdrückende Dissenz gegenüber den bestehenden
Verhältnissen, die (unspezifische) Auflehnung der Individuen
gegen die mangelnde Befriedigung ihrer (mentalen) Bedürfnisse
fokussieren sich damit an einem Punkt, der sowohl Momente der
Befreiung als auch der sozialen Kontrolle beinhaltet. Obgleich
diese kollektiven Rituale oft als exklusiver Ausdruck von Jugendkultur
wahrgenommen werden, sind sie durchaus kein Spezifikum derselben.
Im Karneval z.B. finden wir die institutionalisierte Entsprechung
der Ausdrucksformen der Jugendkulturen in den Ritualen der Mehrheitsgesellschaft
/ Erwachsenenkultur. Die Auflehnung der Individuen gegen ihre
Entfremdung wird eingeordnet in den Rahmen der gesellschaftlichen
Verhältnisse. Die soziale Kontrolle des gemeinschaftlichen
Rituals wird in unserer Gesellschaft vermittelt über den
Markt: über die Kommerzialisierung der Musikkultur und ihrer
Symbole wird die sich ausdrückende Sehnsucht nach Befriedigung
der individuellen Bedürfnisse neutralisiert im Konsumismus
und der Vermarktung originärer Impulse. Die Flucht, die Revolte
endet so zwar nicht unausweichlich, aber doch in den meisten Fällen
im gleichen Käfig auf einem anderen Leiterchen.
"Geht's mir irgendwann mies, stell' ich mir vor alle Spießer am Spieß!" sang die Frankfurter Band Strassenjungs in den 80ern. Die Abgrenzung gegenüber den "Spießern", die den Kanon der herrschenden Normen und die totale Anpassung an diese repräsentieren, ist eines der Hauptanliegen vieler Jugendszenen. Die Normalbürger wiederum sind gleichermaßen angewidert von Punkmusik a la Sex Pistols, dem Pogo von Skrewdriver und Störkraft oder den Gangster-Sprüchen aus der Hip-Hop-Szene. It's nice to be hip! - sich durch subkulturelle Ausdrucksformen von den "Anderen" zu unterscheiden und neue Tendenzen aufzugreifen, entspricht dem Bedürfnis nach Veränderung und Diskontinuität, nach dem Bruch mit dem Bestehenden. Die Identifikation mit einer Gemeinschaft geht dabei unweigerlich einher mit der Abgrenzung nicht nur gegenüber der Gesellschaft, sondern auch gegenüber (konkurrierenden) "Szenen". Daß die Gesellschaft den Widerspruch durch (repressive) Toleranz und über den Markt vermittelte Integration mehr oder weniger auflöt, mag die Abgrenzung gegenüber anderen Gemeinschaften noch verstärken. Abhängig vom durch die eigene soziale Situation aufgebauten Aggressionspotential kann aus der gegenseitigen Abgrenzung von Jugendszenen eine Konfliktlage bis hin zur gewalttätigen Auseinandersetzung entstehen. Die politische, normative Ausrichtung einer Jugendszene ist zunächst ein sekundäres Moment der Gemeinschaft. Im Einzelfall kann es durchaus Zufall sein, ob ein Jugendlicher sich z.B. einer linken oder einer rechten Skinhead-Gruppe anschließt. Die Subkultur der Skins geht historisch gesehen aus dem proletarischen Milieu englischer Großstädte hervor. Die musikalischen Wurzeln finden sich im schwarzen Ska, der von farbigen jamaikanischen Immigranten nach Großbritannien gebracht wurde. Skinheads und Punks, ob rechts oder links, ist eine Selbstdefinition als "revoltierender Sklave" absolut gemeinsam. Die ideologische, politische Ausrichtung der Szene ist demgegenüber eindeutig nachgeordnet. Daß viele Skinhead-Gruppen sich mehr oder weniger deutlich faschistischer Ideologie und Politik verschreiben, ist einerseits durch die provokative, tabubrechende Wirkung der Naziparolen bedingt, andererseits jedoch genauso durch die allgemeine gesellschaftliche Rechtstendenz. Daß die Skinhead-Kultur in der Öffentlichkeit bzw. den Medien praktisch ausschließlich und wahrheitswidrig mit den Nazi-Skins identifiziert wird, ist wohl eher dem Bedürfnis der Mehrheitsgesellschaft geschuldet, rassistische und rechtsgerichtete Tendenzen in ihrer eigenen Substanz zu verschleiern, zu verdrängen und als etwas außerhalb ihrer selbst Bestehendes auszugeben.
Wieder zurück zum Jugendzentrum: Die Konfliktsituationen,
der Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter heute häufig in
Jugendzentren und -häusern ausgesetzt sind: Rivalisierende,
sich oft sogar hart bekämpfende Gruppen von Jugendlichen
(Rapper, Raver, Rocker, Punks, Skins, Stinos etc.) in einem Stadtteil
fighten um die (alleinige) Nutzung von Räumen und freien
Zugang zu "ihrem" Haus. Heillos zerstrittene Fronten
von Jugendlichen und die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter
mitten drin. Was tun? Geht überhaupt noch etwas? Mediation,
die letzte Rettung? Man kann es ja mal versuchen. Ein erfahrenes
Mediatorenteam, ein Jugendforscher und eine Jugendforscherin aus
Südhessen, werden angesprochen und übernehmen den Fall.
Nach eingehenden Vorgesprächen des Mediatorenteams mit allen
Beteiligten, den Mitgliedern der Pogoband, den Ravern und der
Crew der Sozialarbeiter und -innen kommen die Mediatoren zu folgender
Empfehlung: Die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter sollen
sich einer Supervision unterziehen, um die Professionalität
ihrer Arbeitsweise im Jugendhaus zu reflektieren und den Grad
ihrer unterschiedlichen Verwicklung bzw. Positionen im Konflikt
um die Jugendhausnutzung zu analysieren. Den Ravern und Skinheads
wurde von den Mediatoren die Hausaufgabe gestellt, für sich
herauszufinden, wie sie die Verteilung der Räumlichkeiten
regeln würden, wenn ihnen das Haus gemeinsam gehören
würde und sie gemeinsam eine verantwortliche Lösung
suchen und finden müßten und wollten. Außerdem
wurden die konkurrierenden Gruppen der Raver und Pogo-Skins aufgefordert,
bis zum nächsten Treffen aufzuschreiben, welche Wünsche
sie mit einem Mediationsgespräch verbinden und welche neuen
Handlungsperspektiven sich ihnen ihrer Meinung nach eröffnen
würden, wenn sie sich auf eine Mediation einlassen. Nach
vier Monaten harter Arbeit war es vollbracht: Nach den Supervisionsgesprächen
und dem Ausscheiden einer Kollegin kamen die Sozialarbeiter nach
Reflexion des eigenen Anteils an den Konflikten rund um das Jugendhaus
zu einer Neubewertung ihrer Arbeit und bildeten endlich wieder
eine erfogversprechende Arbeitseinheit. Roberto, Murat und ihre
Cliquen haben erkannt, daß auf der Basis gegenseitigen Respekts
der Jugendlichen voreinander sowie vor ihren unterschiedlichen
Ansichten und Musikvorlieben für beide Gruppen mehr herausspringt
als mit Krieg und Haß gegenüber projizierten Feindbildern.
Die Basis des gegenseitigen Respekts legten sie dadurch, daß
sie den anderen ihre Musik, deren "roots" und die Bedeutung,
die sie mit ihrer Musik verbinden, verständlich und transparent
machten. Murat liebt den Pogo noch immer nicht und Roberto würde
kein Techno auflegen, aber Vorurteile sind ausgeräumt und
sie haben viel über Techno, Pogo und deren jeweiligen Ursprung
gelernt. Sprüche wie "Techno ist geballter Schwachsinn"
oder "Skin-Musik ist primitiver Scheiß" sind jedenfalls
von beiden Seiten nicht mehr zu hören. Die Möglichkeit
einer gemeinsamen Ausflugsfahrt von Roberto, Murat und den Jugendlichen
beider Szenen zusammen mit den Sozialarbeitern steht im Raum.
Die Bereitschaft, die Erfahrbarkeit anderer Musikstile und Musikkulturen an uns heranzulassen, die prinzipielle Akzeptanz der Tatsache, daß eine bestimmte Musik für andere die gleichen oder ähnliche Gefühlsinhalte wie bei uns selbst transportiert, der Versuch, etwas über die Wurzeln und Hintergründe der anderen Szene zu erfahren, sind für uns letztlich die wichtigsten Schlüssel, um im Umgang mit Musik zu mehr Verständnis und Konfliktlösungsfähigkeit zu kommen. Für die meisten von uns gibt es eine Musik, bei der wir mitschwingen, bei der unsere Seele mitschwingt, bei der unsere Sehnsüchte wach werden. Das ist uns gemeinsam - RAVE ON!