Vor einigen Jahren fand an der Uni Frankfurt/M. unter der Regie des studentische Vereins "Pupille & schöne neue Welt e.V." eine Veranstaltungsreihe zu Rassismus/Faschismus/... mit dem Titel "Escape to Life?" statt. Einer Broschüre zu diesem Pojekt ist der folgende, leicht gekürzte Text zur ideologischen Basis, Entwicklung und Gefahren des Multikulturalismus entnommen. Er stellt meiner Meinung nach einen wichtigen Diskussionsbeitrag dar, der mir einiges 'n ganzes Stück klarer gemacht hat. Trotz gewisser Defizite oder Verkürzungen wird eine Grundstruktur entwickelt, die auch über den Rassismusdiskurs hinaus für die theoretische/inhaltliche Reorganisation linker Opposition in der BRD wichtige Denkanstöße liefert. Würde mich freuen, wenn euch der Text was nutzt bzw. weitere Diskussionen angeregt.
Zur Konstruktion des Fremden im Diskurs des Multikulturalismusvon Frank-Olaf Radke |
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Die in den letzten Jahren in der Bundesrepublik Deutschland heftig
aufwallende Debatte über die "multikulturelle Gesellschaft", mit der
Diskussionen in den klassischen Einwanderungsländern Kanada, USA und
Australien nachgeholt werden, sucht auf durch Migration bedingte
Veränderungen in der Gesellschaft mit der Konstruktion eines neuen
Verhältnisses zu den Fremden zu reagieren. Behauptet wird eine neue
Realität, die eine Neukonzipierung von Innen/Außen erforderlich mache.
Der Diskurs des Multikulturalismus wurde zuerst von denjenigen
Instanzen geführt, die in der bundesrepublikanischen Gesellschaft
mit der Integration, der sozialen Kontrolle und Normalisierung
beschäftigt sind, also der Sozialpolitik, Sozialarbeit/Sozialpädagogik,
der Schulpädagogik und des Gesundheitssystems. Diese
Instanzen fingen Anfang der 80er Jahre an, die Gesellschaft in einer
neuen Terminologie zu beschreiben und neue Umgangsformen zumindest
mit den Fremden zu propagieren, die gestern kamen und heute bleiben.
Der Ball wurde aufgefangen von den für Moral zuständigen Instanzen
in den Kirchen, den Parteien und unter Intellektuellen. Die genaue
Terminierung des Beginns der neuen Redeweise ist von Bedeutung.
Sofern es Einwanderung in die BRD in zahlenmäßig bedeutsamem Umfang
nicht erst seit 1980 gab, macht die Beobachtung, daß der Begriff
"multikulturell" vorher fehlte, darauf aufmerksam, daß weniger eine
Veränderung in der Gesellschaft als eine Umstellung der Semantik
stattgefunden hat, über deren Ursache etwas herauszufinden sein müßte.
Bei dem Diskurs des Multikulturalismus handelt es sich allerdings
nicht um eine bloße Beschreibung der durch die Internationalisierung
der Arbeitsmärkte, durch Wanderung und Flucht entstandenen dauerhaften
Anwesenheit von Fremden in der Gesellschaft, sondern um eine
pädagogische Programmatik. Die in der Gesellschaft vorgefundenen und
dort zur Diskriminierung benutzten Unterscheidungen der ethnischen
Herkunft werden auch von den "Analytikern" der neuen Realität als
Kategorien zur Beschreibung der sozialen Verhältnisse benutzt. Sie
heben die ethnischen Differenzen hervor, um durch ihre Thematisierung
eine Kommunikation mit der Gesellschaft einzuleiten. Der Gesellschaft
soll mit moralischen Argumenten ausgeredet werden, die ethnische
Differenz als Ressource zur sozialen Diskriminierung zu benutzen.
Gegen das veraltete Modell der national homogenen Gesellschaft
kultureller Einheit wird die Vision der ethnischen Vielfalt gesetzt,
die bei gegenseitigem Verständnis als Bereicherung erlebt und zu
einer Steigerung des Lebensgefühls werden soll. Zugleich wird die
identitätsstiftende Funktion der kulturellen Gemeinschaften
hervorgehoben.
Wiedererinnert wird die Sicherheit, die die Herkunftsgemeinschaft
verspricht, die schon aus diesem Grund erhalten, von der Gesellschaft
unterstützt und gefördert werden müßte.
Der Diskurs des Multikulturalismus kennt verschiedene Spielarten. Es gibt den demographisch instrumentellen Multikulturalismus, der Einwanderung zur Entlastung des Arbeitsmarkts zulassen und die Immigranten zugleich als Beitragszahler benutzen will, die die demographisch bedingten Lücken in der "Solidargemeinschaft" schließen und die Finanzierung des Systems der sozialen Sicherung gewährleisten soll. Diese Form des Multikulturalismus ist das ideologische Konstrukt der Sozialpolitik (Heiner Geißler). Daneben findet sich ein im engeren Sinne pädagogischer Multikulturalismus, der von den Verbänden der freien Wohlfahrtspflege getragen wird. Um die neuen Klienten der Sozialarbeit und Sozialpädagogik untereinander aufteilen, angemessen fördern und beim Erhalt ihrer Lebensform, ihrer Sprache und Tradition unterstützen zu können, sind die Zugewanderten in Kulturen eingeteilt worden, die sie zu handhabbaren Gruppen machen und ihre Bearbeitung erleichtern.
Für den Multikulturalismus sind vier Theorieentwicklungen, in denen
sich die Umstellung von Beobachtungskategorien für soziale Differenzen
abzeichnet, von besonderer Bedeutung.
Das Konzept der Lebenslage. Ein hervorstechendes Theorieereignis in
der Soziologie der siebziger Jahre war die Umstellung von einem
ökonomisch dominierten Klassenbegriff auf andere Kategorien der
Beschreibung sozialer Ungleichheit. Der Ungleichheitsbegriff innerhalb
einer als homogen angesehenen, nationalstaatlich verfaßten
Gesellschaft konnte sich auf die Thematisierung der Differenz
Oben/Unten beschränken und dazu nach- und nebeneinander mit dem
Begriff der "Klasse" und dem der "Schicht" operieren. Um der
Beobachtung gerecht zu werden, daß in ausdifferenzierten
Gesellschaften die gleichzeitige Zugehörigkeit des einzelnen zu
verschiedenen Teilsystemem seine Klassifizierung entlang eines
einzigen Kriteriums immer schwieriger macht, wurden Cluster von
weiteren Merkmalen herangezogen: "Geschlecht", "Alter", "Kohorte",
"Religion" und "nationale Herkunft" bestimmen in dieser Sichtweise den
sozialen Status in einer Gesellschaft maßgeblich mit. Im Konzept der
"Lebenslage" wurde versucht, der Tatsache Rechnung zu tragen, daß
Ungleichheit nicht allein ökonomisch definiert wird, sondern ein
komplexes Geschehen ist, in dem insbesondere auch unverlierbare,
quasi natürliche Merkmale eine Rolle spielen.
In engem Zusammenhang mit dieser Betrachtungsweise steht das Konzept
des Regionalismus. Nach dem als Scheitern erlebten Mai '68 als in
Frankreich die Arbeiterklasse die ihr von der Linken angesonnene Rolle
nicht wahrnahm, verschoben sich die enttäuschten Hoffnungen der
Intellektuellen in den Metropolen von der revolutionären Klasse auf
die Region. Regionalismus als Protest gegen den Zentralismus, als
Widerstandshaltung gegen die Universalisierung einer Kultur
kapitalistischer Warenproduktion und Warenästhetik, die nicht nur die
Arbeiter betraf, wurde als neuer Ansatzpunkt für eine Politik der
Umwälzung und als Kristallisationspunkt linker Mobilisierung
verstanden. Regionale Bewegungen erschienen als Widerstandspotential
gegen die kapitalistische Vereinheitlichung und Zerstörung von
Lebensformen. Es war eine romantische Verklärung, die nach Jahren des
vergeblichen "Klassenkampfes" an nationalen Befreiungsbewegungen ihr
Vorbild fand und nun wieder die Begriffe "Nation" und "Volk" in den
"Linken" Diskurs einführte.
Die von der Arbeiterklasse enttäuschten Hoffnungen wurden auf das
Subproletariat der Arbeitsmigranten übertragen, die sich in der Fremde
um die Merkmale ihrer ethnischen Herkunft organisierten und darüber
leichter mobilisierbar zu sein schienen. Nun wurde ihnen vor allen
anderen Marginalisierten eine sozialrevolutionäre Rolle zugedacht.
Nicht mehr die Klassenlage, sondern die ethnische Kolonie galt jetzt
als der Ort, an dem sich Bewußtsein "für sich" entwickeln konnte, das
die Voraussetzung für eine Vereinheitlichung der Interessen und damit
für politisches Handeln und die aktive Veränderung der gesamten
Verhältnisse zu sein schien.
Eine Voraussetzung für die Abkehr von dem die Klassentheorie tragenden
ökonomismus war die Alltagswende in den Sozialwissenschaften. Auf die
Erfahrung der forcierten Rationalisierung und Verwissenschaftlichung
der Welt, ebenso auf die Einsicht in deren Scheitern, das sich
insbesondere in der Innovationsresistenz z.B. der
Bildungsinstitutionen gezeigt hatte, folgte die Wende zum Alltag, mit
der dessen Eigensinnigkeit hervorgekehrt wurde. Nachdem mit der
Entkolonialisierung in Afrika, Asien und Lateinamerika Ethnologie und
Anthropologie ihre angestammten Betätigungsfelder verloren hatten,
wurde die als Kritik am Strukturfunktionalismus formulierte
Ethnomethodologie und Ethnotheorie breit rezipiert und das Fremde im
alltäglich Normalen der eigenen Gesellschaft aufgedeckt. Mit dem
Instrument der soziologisch reformulierten Phänomenologie sollte die
Perspektive eingenommen werden, aus der die Gesellschaftsmitglieder
selbst die Wirklichkeit erleben.
Auch in der Tradition der "kritischen Theorie" wurde Klage über die
objektivistische Verformung der Subjektivität geführt. Nach dem
Protest gegen den Neo-Kolonialismus in der Dritten Welt wurde nun die
Kolonisierung der Lebenswelt zuhause beschrieben. In der Rezeption der
Entgegensetzung von Systemen und Lebenswelt, die an die traditionelle
Dichotomie von Zivilisation und Kultur gemahnt, wird die rationale
Kälte des Systems gegen die scheinbar heimelige Wärme der Lebenswelt
ausgespielt, in der Kommunikation, Unmittelbarkeit und Spontaneität,
mit einem Wort das Gegenteil von Entfremdung, vermutet werden. Die
Alltagswende führte, wie schon der Regionalismus, zu einer
Neubewertung partikularer kultureller und subkultureller
Orientierungen. Zeitweise wurde dem Alltag sogar eine höhere
Rationalität und Dignität zugesprochen, die es zu rekonstruieren und
normativ, z.B. für soziale Interventionen zu nutzen galt.
Von der Entdeckung der Region und des Alltags war es nicht weit zu
einer Wiederbelebung des Gemeinschaftskonstrukts. Ähnliche
Erfahrungen, die die Alltagswende bewirkt hatten, führten unter
Rückgriff auf bislang tabuisierte Theorietraditionen auch zu einer
Renaissance des Gemeinschaftsbegriffs. Die scharfe Dichotomie von
Gesellschaft und Gemeinschaft, mit der Tönnies 1887 die später von Max
Weber weitergeführte Modernisierungs- und Rationalisierungsdiskussion
in der Soziologie eröffnet hatte, blieb mit umgekehrten Vorzeichen bis
weit in die siebziger Jahre als Reaktion auf die Ideologisierung des
Gemeinschaftsbegriffs im Nationalsozialismus bestehen. Hatte lange
Zeit die Vorstellung dominiert, "Gemeinschaft" sei eine traditionelle
Form des Sozialen, wohingegen Modernität sich gerade durch die
Auflösung der Gemeinschaften und die Individualisierung der Menschen
auszeichne, wurde im Zuge der forcierten Rationalisierung der
Lebensformen in den Jahren der dritten technischen Revolution die
Leerstelle zwischen Individuum und Gesellschaft zunehmend als Mangel
empfunden.
Die Einsicht, daß auch in der modernen Gesellschaft das Bedürfnis nach
Gemeinschaft als einer vermittelnden Instanz zwischen dem einzelnen
und dem Staat Voraussetzung ihres Funktionierens sein könnte, führte
zu einer zeitweise romantischen Verklärung kommunitärer Lebensformen
und zu dem Bemühen, Gemeinschaftlichkeit in verschiedenen
Lebensbereichen zu rekonstruieren.
Ähnlich wie der Begriff "Volk" im Durchgang durch den
angloamerikanischen Diskurs gleichsam desinfiziert als "Ethnizität"
neu aufgegriffen werden konnte, erschien "Gemeinschaft" in der
englischen Verfremdung zu "community" als freiwillige Assoziation,
die insbesondere der Vereinzelung begegnen soll, aber auch dazu
geeignet zu sein schien, Interessen gegenüber dem Staat geltend zu
machen. Insbesondere im Bereich der Sozialarbeit und Sozialpädagogik
trat neben die "case-" und "group-work" nun die "community-work" als
dritte Methode, mit der insbesondere "Randgruppenarbeit" gemacht und
der Versuch verbunden wurde, die Benachteiligten für die Durchsetzung
ihrer Rechte zu mobilisieren.
Die Neubewertung von Verwandtschaft, Freundschaft und Nachbarschaft
gewann in dem Maße auch sozialpolitische Bedeutung, in dem die Grenzen
der Leistungs- und Funktionsfähigkeit des Sozialstaates sichtbar
wurden. Der hypostasierten Gemeinschaft wurden unter dem Etikett der
"neuen Solidarität" alte Aufgaben der Vor- und Fürsorge wieder
zugewiesen. Die Isolation zumal der Grundschule vom "Leben", die nicht
zuletzt das Ergebnis der wissenschaftlich angeleiteten Schulreformen
der siebziger Jahre war, sollte durch eine "Community-Orientierung",
die Öffnung der Schule zur umgebenden Gemeinde aufgehoben werden,
wobei die Schule selbst von der Gemeinde bereichert werden, aber auch
umgekehrt die Funktion übernehmen sollte, Gemeinschaft überhaupt erst
wieder zu stiften.
Auf diesem Hintergrund ist auch die Neubewertung der "Ausländer-Communities", die bis dahin als Ghetto beschrieben wurden, zu
verstehen. Die Integration der Ausländer schien über den Umweg ihrer
Binnenintegration mit Aussicht auf Erfolg möglich zu sein. An die
Stelle der Sozialverwaltung konnte das Konzept der Hilfe zur
Selbsthilfe unter Wahrung der kulturellen Identität auch in der
Ausländerarbeit treten.
Alle diese Denkströmungen fließen zusammen im Diskurs des
Multikulturalismus, der nicht eine Kreation des Wissenschaftsbetriebes
ist, sondern von der Wissenschaft als eine neue Form der
Selbstbeschreibung beobachtet werden kann, mit der Institutionen
der Gesellschaft ihre Praktiken kommentieren. Sie arbeiten dabei mit
Unterscheidungen, die ihrerseits aus dem wissenschaftlichen Diskurs
entnommen sind.
Fast durchgängig werden sie von solchen Konzepten und Theorielinien
"bezuschußt", die in der Marxschen Tradition den Prozeß der
Modernisierung als ein Leiden an der Entfremdung behandeln, die durch
die Universalisierung der Waren- und Tauschbeziehungen entstehe und zu
einer Zerstörung der Subjektivität führe. "Religion", "Alltag",
"Gemeinschaft" und "Lebenswelt" stehen für die Utopie vom guten Leben,
bezeichnen Bastionen, in denen sich das Subjekt verschanzen und seine
partikulare Identität gegen die Übergriffe des "Systems" zu retten
versuchen kann. Die empirische Beobachtung, daß dies so geschieht,
wird normativ gewendet, so als ob in der "unberührten" Lebenswelt
eine tiefere Humanität zu vermuten sei. "Entfremdung" von der Familie,
der Gemeinschaft und der Region auch als Chance der Emanzipation und
der Befreiung aus Bornierungen zu begreifen, fällt in dieser
Theorieperspektive schwer. Genau diese Überbelichtung der einen Seite
der Moderne, die zu einer romantischen Bewunderung vormoderner
Lebensformen führt, überträgt sich auch auf den Multikulturalismus,
der sich nun seinerseits als ein humaner Gegenentwurf zu Nivellierung
und Entfremdung präsentiert.
Wissenschaft macht sich nicht nur Kategorien zu eigen, die aus
Selbstbeschreibung gesellschaftlicher Instanzen stammen, sondern sie
versorgt Gesellschaft auch mit neuen Beschreibungskategorien. So
begegnet sie im Alltag einer von ihr selbst mitproduzierten
Wirklichkeit der Interpretation der sozialen Welt durch die Verwender
von Wissenschaft. Giddens spricht von einem "gegenseitigen
interpretativen Zusammenspiel zwischen der Sozialwissenschaft und
denen, deren Handlungen ihren Gegenstand bilden".
Welche Möglichkeiten bestehen in dieser Lage, die latenten und
manifesten Folgen wissenschaftlicher Konstruktionen von Wirklichkeiten
auf ein Handlungsfeld abzuschätzen, also beispielsweise die Folgen der
Entscheidung, Gruppenkonflikte mit dem Begriff der "Klasse" und/oder
"Rasse" und/oder dem der "Ethnie" zu analysieren?
Der Diskurs des Multikulturalismus versteht sich als eine Aufforderung
an die Gesellschaft, mit Hilfe einer Neuinterpretation der
entstandenen Situation das Verhältnis zu den Fremden moralischer,
d.h. in Übereinstimmung mit den Prinzipien der "Menschenwürde", die
sonst in der Gesellschaft gültig sind, zu bewältigen. Das Angebot kann
als eine Sozialtechnik aufgefaßt werden, mit der ein Steuerungsproblem
der Gesellschaft durch gezielte Kommunikation und die Kraft der Moral
gelöst werden soll. Im Bereich moderner Großtechniken hat sich das
Postulat der Technikfolgenabschätzung bereits Geltung verschafft.
Diese Notwendigkeit besteht auch im Bereich der Sozialtechniken. Im
Fall des Multikulturalismus ist zu fragen, welche unbeabsichtigten
Nebenfolgen der Diskurs in der Gesellschaft hat.
Der Multikulturalismus definiert Pluralität und Vielfalt der
Lebensstile und -formen als soziale Normalität. Diese Deutung erfaßt
ein Strukturmerkmal der modernen ausdifferenzierten Gesellschaft, das
vor allen Migrations- und Fluchtbewegungen beschrieben worden ist.
Moderne Gesellschaften sind zersplittert in eine Vielzahl von sich zum
Teil widersprechenden Lebensbereichen, in denen ganz unterschiedliche
Regeln, Normen und Werte gelten, die das einzelne Individuum
gleichzeitig leben können muß. Indem der Multikulturalismus Pluralität
und Vielfalt aber mit "ethnischer/nationaler Herkunft" in Verbindung
bringt, anthropologisiert er Ethnizität und setzt damit eine bestimmte
historische Konstruktion von Gemeinschaft (und von Fremdheit)
konstant.
Bei Anerkennung der funktionalen Differenzierung von Gesellschaft
ließe sich anders konstruieren: Nach dem Zerfall der traditionalen
sozialen Gemeinschaft und der Entstehung einer modernen Gesellschaft,
in der die Überschaubarkeit und damit die Übersichtlichkeit verloren
geht, entwickeln sich neue Formen, Innen und Außen zu unterscheiden
und mit den Fremden umzugehen. In der Situation der gleichzeitigen
massenhaften Anwesenheit von Gesellschaftsmitgliedern an einem Ort,
exemplarisch in den großen Städten, wird es unmöglich, länger mit der
traditionellen Unterscheidung von eigen/fremd bzw. Freund/Feind zu
operieren. Die Zweiwertigkeit der Unterscheidung von Innen und Außen
wird zu einer Dreiwertigkeit erweitert: um die dritte strukturelle
Figur des neutralen Fremden.
In der modernen Gesellschaft besteht zu mehr Menschen Kontakt, als
man kennen kann. Dem trägt die Möglichkeit Rechnung, sich auf Straßen
und Plätzen, in Bussen und Fahrstühlen grußlos zu begegnen, ohne daß
dies als Unhöflichkeit oder gar Feindseligkeit gedeutet würde. Die
grußlose Begegnung ist eine Form der modernen Sozialität, mit der die
Distinktionsnotwendigkeit suspendiert wird. Man hat gelernt, auf
wahrgenommene Differenzen mit Nicht-Entscheidung, also mit
Gleichgültigkeit und Indifferenz zu reagieren.
Funktional differenzierte Gesellschaften haben sich in Sphären aufgeteilt, in denen je unterschiedliche Prinzipien herrschen, die auch den Umgang mit den Fremden betreffen. Die Spaltung von Innen und Außen kehrt in der modernen Gesellschaft als die Unterscheidung von "Öffentlich" und "Privat" wieder. Die Bedingung für das Funktionieren der öffentlichen Sphäre ist die Gleichgültigkeit gegenüber dem "neutralen Fremden", der Passant ist wie man selber. Hier meint Gleichgültigkeit "unbeteiligt sein". Der Passant ist irgendein Anderer, dem beliebig andere folgen. In der öffentlichen Sphäre der Straße und des Marktplatzes macht man Geschäfte, nimmt Dienstleistungen in Anspruch und genügt den Anforderungen der Verwaltung; hier begegnen einem die Anderen in spezifischen Funktionsrollen, die es möglich machen, von dem sonst an ihren Trägern wahrgenommenen Eigenschaften abzusehen. Nur die Funktionsrolle ist von Bedeutung. Gleichgültigkeit meint hier, daß die Handlungen der lizensierten Funktionsrollenträger die gleiche Gültigkeit haben. Die berechtigte Erwartung, daß sich ein Arzt wie ein Arzt verhält ist so groß, daß die Tatsache, daß er Merkmale des anderen Geschlechts, einer anderen Religion oder Region oder einer anderen ethnischen Gruppe hat, im Regelfall übersehen werden kann.
Anders in der Privatsphäre. Hier lassen unspezifische Beziehungen
die Wahrnehmung aller Merkmale der Person zu. Sie werden geradezu
thematisch, wo es nicht um Funktionsleistungen, sondern um die
Interaktion mit der ganzen Person geht. Gleichgültigkeit hat in der
Privatsphäre keinen Platz. Sie würde zwangsläufig der Person
zugerechnet, als Kälte und Gefühllosigkeit wahrgenommen. Vor
Irritationen schützt hier das Prinzip der Ausschließlichkeit, daß die
Zulassungskriterien festlegt und sich als Vergesellschaftungsprinzip
etabliert.
Der Diskurs des Multikulturalismus, der die Beobachtung macht, daß das
dem Modell der Sphärentrennung unterstellte Prinzip der
Gleichgültigkeit gegenüber unspezifischen Merkmalen nicht praktiziert
wird, macht den anspruchsvollen Vorschlag, die ethnische Differenz
ausdrücklich und in bestimmter Weise zur Kenntnis zu nehmen.
Ethnizität soll als Anderssein verstanden und dennoch nicht im
sozialen Prozeß als Ressource der Unterscheidung (d.h. der
Diskriminierung) verwendet werden. Nicht nur die Funktionsrollen,
auch die kulturellen Merkmale sollen als gleich gültig anerkannt und
damit relativiert werden. Eine Kultur/Ethnie soll wie die andere sein
und deshalb für die konkrete Interaktion ohne Bedeutung. Differenz
soll bewußt erlebt und gelebt werden; nicht als Bedrohung, sondern
als Anregung.
Dieses Programm hat Konsequenzen. Es führt in die öffentliche und
soziale Sphäre der modernen funktional differenzierten Gesellschaft
ein Moment von Unspezifität wieder ein, das dort seine objektive
Bedeutung bereits verloren hat. An dieser Feststellung ändert auch die
unbestrittene Beobachtung nichts, daß Individuen und soziale
Institutionen so deuten. Sie hinken mit ihren Deutungen hinter der
realen Entwicklung her. Die Gesellschaft ist weiter als die Form der
Kommunikation über sie. Der Diskurs des Multikulturalismus verstärkt
das traditionale Denken. Innen und Außen, eigen und fremd betreffen in
differenzierten Gesellschaften kontextabhängig jeweils nur
Teilsysteme, deren Regeln funktional bestimmt sind. Die Unterscheidung
nach ethnischen Kriterien jedoch ist die Konstruktion eines nahezu
unverlierbaren übergreifenden Merkmals, das früheren Formen der
Vergesellschaftung angehört. Mit dem Multikulturalismus wird nicht
eine progressiv-moderne, sondern eine regressive Lösung der
Innen-Außen-Problematik offeriert. Das Angebot suggeriert die
Möglichkeit, in der ursprünglichen Gemeinschaft die Orientierung
wiederzufinden, die mit der funktionalen Ausdifferenzierung der
Gesellschaft verlorengegangen zu sein scheint. Die gerade wieder zu
beobachtende Dynamik "ethnischer" Konflikte und ihrer Unlösbarkeit
weist in eine andere Richtung.
Sofern versucht wird, die Konflikte, die sich aus der gleichzeitigen
Anwesenheit von als fremd wahrgenommenen Gruppen in einer Gesellschaft
ergeben, durch Kommunikation sozialtechnisch zu beeinflussen, so ist
zumindest soviel sicher: Die nicht intendierten Nebenwirkungen des
Diskurses des Multikulturalismus drohen, seine positiv pädagogischen
Ansprüche zu überlagern. Aus dem Stammland des Multikulturalismus, den
USA, wird berichtet, daß sich ausgerechnet an den Hochschulen eine
Form der ethnischen Partikularisierung ausbreitet, die auf einer
Neubelebung der ethnischen und sogar der rassischen Differenz beruht.
"Schwarze Tische" in der Mensa, "asiatische Wohnhäuser", strikte
Sitzordnung nach Hautfarbe in den Vorlesungen und in Sportveranstaltungen,
nach Rasse getrennte Feten und sogar offizielle Zeremonien -
dies alles wird als ein "Feiern von Unterschieden" von den
betreffenden Minoritäten selbst verlangt und von den Universitäten im
Namen einer allseits angestrebten "Diversität" des Campus zugestanden.
Es entwickelt sich eine Form des Multikulturalismus, die von den als
fremd Konstruierten selbst in Anspruch genommen wird. Sie mündet in
einen reaktiv-fundamentalistischen Multikulturalismus, der sich in der
demonstrativen Rückbesinnung auf kommunitäre Lebensformen der Familie
und der Dorfgemeinschaft bezieht. An die Stelle von Solidarität, die
ein Prinzip der Auseinandersetzung mit Diskriminierung und
Unterdrückung wäre, tritt der Rückzug in die Authentizität der
kulturellen Identität. Es entsteht ein Pluralismus der Herkünfte, der
sich von dem "Pluralismus der Interessen" dadurch unterscheidet, daß
eine Kompromißbildung zwischen den aufeinander treffenden Normen immer
schwieriger wird.
Gelebte Gleich-Gültigkeit dagegen hätte eine strukturelle
Voraussetzung. Zur Kultur des Unterschieds gehörte, daß die Teilnehmer
rechtlich gleich sind. Die nicht zu übersehende Ungleichheit in der
Gesellschaft ist keine der Kulturen. Die Unterscheidung von Kulturen
und Ethnien verfehlt ein Strukturproblem moderner Gesellschaften und
das Prinzip ihres Funktionierens. Zuwanderung von "Fremden" und ihr
dauerhafter Aufenthalt setzt voraus, daß ihnen Rechtsgleichheit
zugestanden wird, die sie befähigt, in der öffentlichen Sphäre als
gleiche aufzutreten, deren Ansprüche und Interessen gleich gültig
sind. Solange Zugewanderte und Flüchtlinge in dieser Gesellschaft in
einem Status minderen Rechts leben müssen, sind sie diskriminierbar
und werden überall dort diskriminiert, wo es in der Konkurrenz um
Vorteile möglich ist. Erst die Gleich-Gültigkeit des Lebensrechts
aller Mitglieder der Gesellschaft machte es möglich, bestimmten
Differenzen gegenüber gleichgültig zu sein.
Aus: Das Eigene und das Fremde, Hrsg: Uli Bielefeld, Hbg 1991, 38,- DM
(Text von der Redaktion gekürzt. Wir empfehlen die Lektüre des Orginals)
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